Zugegeben: Angesichts dieses Titels hätte ich erwarten können, dass es sich bei diesem Roman um mehr oder weniger esoterisches Geseier handeln würde. Ich muss zu meiner Verteidigung sagen, dass sich das Buch im Nachlass meiner Oma befand. Deshalb, weil es im Diogenesverlag erschienen ist, den ich eigentlich sehr schätze und weil mir das Cover wirklich unheimlich gut gefällt, wolle ich dem Ganzen doch eine Chance geben.
Eine einwandfreie Lehrstunde in „Don’t judge a book by its cover“, aber vielleicht eben doch by its title?

Die Tatsache, dass Oma auf Seite 65 von 190 ein Lesezeichen hinterlassen hat, lässt mich hoffen, dass sie klüger war als ich und nicht noch mehr Lesens- und Lebenszeit damit verschwendet hat, es zu beenden.

Der Roman der italienischen Autorin Susanna Tamaro, aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug, erschienen 1994, ist ein Brieftagebuch, das eine Großmutter an ihre Enkelin schreibt, die sich nach Amerika abgesetzt hat. Die erzählende Großmutter versucht, ihrer Enkelin die eigene Geschichte näher zu bringen, indem sie aus ihrem Leben und dem ihrer Tochter, der Mutter der Enkelin, erzählt, auf dass die Enkelin verstehen möge wo sie herkommt und wieso die Beziehungen zwischen diesen drei Frauen nicht ganz unkompliziert sind.

Das klingt erst einmal okay so weit und könnte, in anbetracht der Tatsache, dass die Großmutter beinahe das ganze 20. Jahrhundert miterlebt hat, auch ein wirklich gutes Fundament für einen wirklich guten Roman sein (siehe „Das Achte Leben (für Brilka)“ von Nino Haratischwili).
Leider ist es sprachlich und literarisch eine einzige Aneinanderreihung von pseudointellektuellen Lebensweisheiten und fragwürdigen Metaphern, verfeinert mit überholten Ansichten eines schon lange obsoleten Weltbildes.

Ja, der Roman ist 25 Jahre alt und ja, die erzählende Oma ist Jahrgang 1910, ABER das macht es einfach nicht weniger unangenehm zu lesen.

Der Klappentext fragt: „Ein Siddharta für Erwachsene?“ und der Text beginnt mit diversen Referenzen auf den kleinen Prinz, die sich durch den ganzen Roman ziehen.
Ich ergänze: Wäre Paulo Coelho eine Frau, dann wäre er Susanna Tamaro. Wenn ihr Coelho mögt, könnte euch „Geh, wohin dein Herz dich trägt“ durchaus gefallen.

Mir persönlich rollten sich angesichts der erzwungenen Tiefgründigkeit jedoch wiederholt die Fußnägel hoch. Im Folgenden einige Beispiele dieser sprachlichen Herrlichkeiten:

„Besonders begeisterte sich Ernesto für das Thema des vorbestimmten Schicksals. ‚Im Leben jedes Mannes‘, sagte er, ‚gibt es nur eine einzige Frau, mit der er die vollkommene Einheit erreicht, und im Leben jeder Frau gibt es nur einen Mann, mit dem zusammen sie vollständig ist.‘ Einander zu begegnen sei jedoch wenigen, sehr wenigen vergönnt. Alle anderen seien gezwungen, in einem Zustand der Unzufriedenheit, der ständigen Sehnsucht zu leben.“

S. 142.

Oh wow, die Schicksalkeule. Ja, die nimmt Tamaro häufig zur Hand.
Was zur Hölle lässt Ernesto glauben, dass er Wissen kann, mit wie vielen Männern ich zusammen „vollständig“ bin? Abgesehen davon, dass zwei Frauen oder zwei Männer miteinander offensichtlich niemals vollständig sein können. Ein Hoch auf die Heteronormativität!
Und ja, wie wir alle wissen, können wir nur in einer heterosexuellen und monogamen Verbindung, mit der einen Person unseres Lebens aus dem „Zustand der Unzufriedenheit, der ständigen Sehnsucht“ entfliehen, weil Menschen niemals dazu in der Lage sind, mit sich selbst in Einklang zu sein, oder ein erfülltes Singleleben im Kreise der Familie oder mit Freunden zu leben, oder vielleicht gar kein Interesse an einer Partnerschaft haben, oder nicht monogam lieben, oder, oder, oder.
Himmel, Ernesto, schluck deine spirituellen Weisheiten runter!

„Solange du nicht verliebt bist, solange dein Herz noch frei ist und dein Blick niemandem gehört, schenkt dir keiner von all den Männern, die dich interessieren könnten, auch nur die geringste Beachtung; dann, in dem Augenblick, in dem du von einem einzigen Menschen eingenommen bist und die anderen dir vollkommen gleichgültig sind, laufen dir alle nach, sagen dir Zärtlichkeiten, machen dir den Hof. Es ist die Wirkung der Fenster, von denen ich vorhin sprach, wenn sie offenstehen, gibt der Körper der Seele viel Licht und ebenso die Seele dem Körper, sie spiegeln und erleuchten sich gegenseitig. In kurzer Zeit bildet sich rund um dich eine Art goldene, warme Aura, und diese Aura zieht die anderen Männer an wie der Honig die Bären.“

S. 143.

Ich kann einfach gar nicht so viel essen, wie ich an dieser Stelle brechen möchte, weil sie auf so vielen Ebenen gleichzeitig ekelerregend ist!

Nun aber zu meinen persönlichen Highlights! Da wäre erstens:

„Wenn man einen Mann liebt – wenn man ihn mit Leib und Seele liebt – , ist es das Natürlichste von der Welt, sich ein Kind zu wünschen.“

S. 149 f.

Okay, wow, im Ernst?! Eine weibliche Autorin lässt 1994 ihre Protagonistin einen solchen Satz ohne jegliche Ironie sagen? Können wir an dieser Stelle einfach mal kurz innehalten und uns darüber klar werden, wie viel die Frauenbewegung und der Feminismus in den letzten Jahren geschafft haben und das obwohl ich mir schon in den 90er-Jahren anhören durfte, jetzt ist aber doch bitte mal langsam gut mit den ganzen Frauenrechtlerinnen, weil woanders ist ja alles noch viel schlimmer?!
In dieser Hinsicht erfüllt das Buch tatsächlich einen Zweck:
Als Zeitzeugnis der Lebensrealität von Frauen im ausgehenden 20. Jahrhundert, die für mich (Jahrgang 1989) schon erstaunlich weit weg ist.

Persönliches Highlight Nummer zwei und endlich was zum Lachen:

„Im Gegensatz zu den anderen Priestern, denen ich begegnet war, kannte er weder Worte der Verurteilung noch des Trostes, das ganze süßliche Gerede der abgegriffensten Botschaften war ihm fremd. […]
‚Nur der Schmerz läßt einen wachsen‘, sagte er, ‚aber man muß sich ihm stellen, wer ihm auusweicht oder sich bemitleidet, ist dazu bestimmt zu verlieren.'“

S. 171.

Na, da bin ich aber beruhigt, dass ihm das „ganze süßliche Gerede der abgegriffensten Botschaften […] fremd“ war, sonst hätte ich jetzt echt gedacht, dass das ein wirklich, wircklich, WIRKLICH abgegriffener Spruch ist!

Fazit:
Wenn ihr diese Zitate lesen konntet und statt Brechreiz eine innere Wärme gespürt habt, wenn ihr euch beim Lesen dieser Sätze verstanden und nicht verarscht gefühlt habt und wenn ihr Paulo Coelho lesen könnt, ohne Pickel zu kriegen, ja wenn ihr ihn vielleicht sogar GERN lest, dann ist dieses Buch eventuell genau das Richtige für euch.
Alle anderen sollten die Finger davon lassen.