Aus der Reihe „Selinas total unpopuläre Meinungen“ lesen Sie heute: Rob Harts „Der Store“ aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt.

Wenn ihr Dave Eggers‘ „Circle“ gelesen habt und gut fandet, lest den Store, er wird euch gefallen.
Wenn ihr Dave Eggers‘ „Circle“ gelesen habt und genau so doof fandet wie ich, lasst die Finger vom Store.
Wenn ihr Dave Eggers‘ „Circle“ nicht gelesen habt, weiß ich jetzt auch nicht.

Ich bin es so unfassbar leid, bei jeder noch so durchschnittlichen Dystopie den 1984-Vergleich zu lesen… Ich kann es nicht mehr hören.
George Orwell hat es 1948 geschafft, eine dystopische Version unserer Zukunft zu beschreiben. Rob Hart (ebenso wie Eggers) hat es geschafft, in der Gegenwart eine dystopische Version der Gegenwart zu beschreiben. Und das halt leider nicht mal gut.

Ein richtiger Plot fehlt. Da ist dieser Onlineversandhandel Cloud, der offensichtlich eine Monopolstellung hat und die Mitarbeiter leben dort wie bei Google oder eben im Circle. Chef dieses besagten Onlinehandels hat Krebs und wird in absehbarer Zeit sterben. Und dann sind da noch ein neuer Mitarbeiter und eine neue Mitarbeiterin, die natürlich eine Beziehung miteinander eingehen und nicht ganz so koschere Gründe haben, dort zu arbeiten. Ende.
Stilistisch ist das Buch aus zwei für mich sehr einschneidenden Gründen schlecht:
1. Es ist so betont nicht-rassistisch, dass es rassistisch ist und
2. Es ist so betont nicht sexistisch, dass es sexistisch ist.

Zu 1.:
Der ganze „Campus“ auf dem der Text sich abspielt, ist natürlich bunt, weil Menschen aller möglichen Ethnien dort arbeiten. Das artikuliert der Autor folgendermaßen: „An der Wand lehnte ein junger Latino.“ (S.104), der so Sachen sagt wie „Okay, mi amiga“ (ebd.) oder „Massenhaft Leute hier sprechen kein Wort inglès.“ (S. 107). Außerdem haben auf den Seiten 105, 159, 165, 179, 249, 320 und weiteren (danach hatte ich keinen Bock mehr zu zählen) Menschen wahlweise indische oder asiatische Gesichtszüge oder zeichnen sich einfach nur dadurch aus, dass sie schwarz sind.
Beispiel: „Zwei Security-Leute, ein Afroamerikaner und eine Frau mit indischen Gesichtszügen, standen in der Nähe und behielten das Ganze im Blick.“ S. 249. Dazu sei gesagt, dass diese beiden für die Geschichte vollkommen egal sind und daher auch ihre Ethnie absolut irrelevant sein sollte. Zum Vergleich die Beschreibung eines Menschen, dessen Ethnie nicht weiter benannt ist: „Zinnia stieg ein und stieß auf einen kräftigen, gut aussehenden jungen Mann mit Dreitagebart…“. S. 341.
Und was wäre eigentlich ein amerikanischer Roman ohne ein einziges Iren-Klischee? Zum Glück gibt es Siobhan (wie sollte sie denn auch sonst heißen?) und „sie hatte rotblondes Haar und eine Stupsnase“ (S. 285) und ist für die Handlung komplett egal, weswegen die Beschreibung ihres Aussehens ebenfalls keinen Zweck erfüllt, außer irgendwelche Klischees zu bedienen.

Zu 2.:
„Es war schön, dass meine Mutter sich hinsetzen und sich die Fingernägel lackieren konnte, statt wie eine Irre durch die Gegend zu rennen, was sie wegen mir und meinem Dad oft hatte tun müssen.“ S. 53.
„[Sie] wählte die geschlechtsneutrale Tür [zu einer Toilette. Cool, da gibt es Unisexklos] […]. Eine der Toilettenkabinen war besetzt; unter der Tür waren Sneakers sichtbar. Nach Größe und Stil zu urteilen, gehörten sie wahrscheinlich einer Frau.“ S. 79. Oh gut, dass wir jetzt wissen, dass sich die Person, die auf der Unisextoilette sitzt und in der Geschichte nie wieder auftaucht, in dem binären Geschlechtersystem wahrscheinlich eindeutig einordnen lässt. Das ist beruhigend.
„Paxton war nicht klar, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Von der Stimmlage her war es eine Frau, der schlanke Körperbau, der nüchterne kurze Haarschnitt uund die fehlenden Kurven passten allerdings mehr zu einem jungen Mann. Nach einem Moment merkte er, dass die nicht recht bestimmbare Person sich von dem am Boden liegenden […]“ blablabla usw. ERNSTHAFT? S. 144.
„Sie überlegte, ob sie sich kurz unter die Dusche stellen oder wenigstens frische Unterwäsche anziehen sollte, aber sie hatte nicht vor, schon heute Nacht mit diesem Typen zu schlafen, und selbst wenn es dazu kommen sollte, würde er sich kaum beschweren. Die meisten Männer konzentrierten sich eher auf das Spiel als auf den Zustand des Spielfelds.“ S. 199 f.


Mir fehlen die Worte. Wenn eine Protagonistin ihren Körper mit „Zustand des Spielfelds“ beschreibt, kann ich mir leider nur noch an den Kopf packen.
Auf den 586 Seiten, die ich tatsächlich alle gelesen habe, finden sich noch jede Menge solcher Blüten und ich kann dazu nur sagen: Gut, dass ich es hinter mir habe!