Ich weiß, dass die besten Jahre meines Lebens hinter mir liegen. Wo ich mich befinde, die Zeiten, in denen ich lebe, und die Dinge, die ich sehe – das alles erinnert mich nur noch an schöne Augenblicke in meinem Leben, die unwiederbringlich vorüber sind.

S. 85.

Als die Geschichte um die namenlose Ich-Erzählerin in Kim Hye-Jins „Die Tochter“ (übersetzt aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee) einsetzt, zieht ihre Tochter aus Geldnot wieder zurück ins Elternhaus. Mit ihr kommt ihre Lebensgefährtin, die seit sieben Jahren an ihrer Seite ist. Die Mutter hat die Homosexualität ihrer Tochter bis zu diesem Zeitpunkt ausgeblendet und nicht akzeptiert. Jetzt mit der Partnerin ihrer Tochter, die sie konsequent nur „das Mädchen“ nennt, unter einem Dach zu wohnen, birgt jede Menge Konfliktpotenzial. Sie kann einfach nicht verstehen, warum ihr Kind kein normales Leben führen, einen Mann heiraten und mit Kindern ihre Altersvorsorge sichern möchte.
Auch ihre Arbeit als Altenpflegerin frustriert sie zunehmend. Sie kann unter den furchtbaren Bedingungen dort nicht mehr angemessen für ihre Patientin Sorge tragen; eine Demenzkranke alleinstehende Frau. In ihr scheint sie sowohl ihre eigene als auch die Zukunft ihrer Tochter zu sehen, die sich lieber auf Demonstrationen herumtreibt und dort in Schlägereien gerät, als sich um ihre eigene Zukunft zu kümmern.

Wie stellen sich die beiden unsere Welt eigentlich vor? Glauben sie wirklich, ihr Leben sei etwas Außergewöhnliches und Großartiges, wie aus einem Hochglanzprospekt? Halten sie die Welt für etwas, das man komplett ummodeln kann, wenn nur eine Handvoll motivierter Menschen gemeinsam mit anpacken?

S. 44.

Ich muss sagen, dass mich der kurze Roman nicht voll und ganz abgeholt hat. Die Erzählstimme hat mich angesichts ihrer ständigen Homofeindlichkeit ununterbrochen wütend gemacht. Die Idee, diese Geschichte aus ihrer Perspektive zu erzählen, fand ich dabei grundsätzlich interessant, die Umsetzung hat mir aber leider nicht zugesagt. Die Dialoge waren repititiv, die Prägungen der Protagonistinnen kamen etwas holzhammermäßig daher.

Spätestens nach der dritten Diskussion, in der die Erzählerin ihre immer gleichen „Argumente“ zur „normalen“ Familie runtergeleiert hat, war ich von ihr nur noch genervt.
Ich muss Figuren nicht mögen oder mich mit ihnen identifizieren können, um ein Buch gut zu finden, aber hier konnte ich nichts und niemanden verstehen und die Handlungen und Denkweisen der Charaktere erschienen mir teilweise unlogisch und schlicht nicht nachvollziehbar.
Natürlich ist es meiner Bubble und meinem Privileg geschuldet, zu leben, wo ich lebe, dass mir die im Buch geführten Diskurse fremd sind, einer anderen Zeit anzugehören scheinen. Damit will ich nicht sagen, dass es hier keine Homofeindlichkeit mehr gibt und alle Eltern fröhlich im Kreis springen und in glitzernden Regenbogen-Flaggen über den CSD hüpfen, wenn ihre Kinder sich als queer outen, aber der allgemeine, gesellschaftliche Konsens ist wohl doch ein anderer.
Selbstverständlich ist es nichtsdestotrotz interessant und wichtig internationale Perspektiven kennen zu lernen. Dafür ist lesen da: Die Welt erschließen, fremde Perspektiven einnehmen, neues lernen. Mir ist auch bewusst, dass es sie gibt, diese Menschen, die ihre eigene Reputation über das Glück ihrer Kinder stellen, die nicht bereit sind, sich von ihren eigenen Prägungen zu lösen oder sie wenigstens in Frage zu stellen und ich möchte auch nicht sagen, dass das Buch keine Daseinsberechtigung hat, sondern nur, dass es mich sehr ratlos zurück gelassen hat.


Positiv fand ich den konsequent zu Ende erzählten Schluss, der nicht mit einem plötzlichen Happy-End aufwartet, nachdem auf knapp 170 Seiten gefühlt keine Charakterentwicklung stattgefunden hat. Auch dass ich auch einige Tage nach Beenden des Buches noch Redebedarf habe und mir die Figuren im Kopf rumschwirren, spricht genau genommen für den Roman. Beschäftigt er mich nachhaltig? Ja. Habe ich ihn gern gelesen? Eher weniger. Würde ich ihn dennoch weiterempfehlen? Eindeutig.


Ich bin gespannt auf die vielen verschiedenen Meinungen zum Text, von denen ja schon einige online gegangen sind. Habt ihr das Buch schon gelesen? Wenn ja, wie ist eure Meinung dazu?
Danke an @hanserberlin für das Rezensionsexemplar!