MTTR, Mean Time to Recover, bezeichnet die mittlere Reparaturzeit nach einem Ausfall eines Systems. Um das vorweg zu nehmen: ich glaube, ich habe selten einen ausgefuchsteren Romantitel gesehen.
Natürlich ergänzt das Gehirn die Konsonanten automatisch um die vermeintlich fehlenden Vokale und macht „Mutter“ daraus. Und das passt wie, entschuldigung, Arsch auf Eimer.
Protagonistin Teresa Borsig macht einen Test. Er ist positiv. Sie ist schwanger. Dabei will sie doch gar nicht Mutter werden. Oder vielleicht doch? Immerhin nimmt sie schon länger vorsorglich Folsäure Tabletten ein. Mit ihrem Partner Erk ist sie noch nicht allzu lange zusammen. Die Erinnerungen an die eigene lieblose Kindheit veranlassen sie zu einem Entschluss: Teresa möchte abtreiben. In der Abtreibungsklinik kann sie die alles entscheidende Tablette aber einfach nicht schlucken. Sie entscheidet sich um und verlässt die Klinik. Sie will dieses Baby. Aber können Teresa und Erk die Mängel der eigenen Kindheit und die Methoden ihrer Eltern hinter sich lassen und eine eigene Form der Elternschaft für ihre Familie finden?
In kurzen, ja manchmal fragmentarischen Sätzen erzählt die Autorin die Mutterwerdung der Protagonistin vom positiven Schwangerschaftstest bis zum Ende der Elternzeit. Genial geschildert und gleichzeitig pulstreibend fand ich dabei die Dialogsituationen mit den Eltern, den Schwiegereltern in spe, anderen werdenden Eltern im Geburtsvorbereitungskurs und dem medizinischen Personal im Krankenhaus. Alle haben eine Meinung. Alle wissen, was das Beste für Teresa und das Baby ist. Und alle übersehen und übergehen dabei die Person, die eigentlich im Zentrum dieser Schwangerschaft steht: Teresa.
Beim Lesen kamen zwar mitunter Erinnerungen an meine eigene Schwangerschaft auf, dankenswerterweise waren meine Situation und mein Umfeld aber um einiges angenehmer. Dennoch werde ich zum Beispiel niemals die Krabbelgruppenfrau vergessen, die mich, damals 25 Jahre alt, sehr mitleidig ansah und fragte, ob ich Hilfe brauche, weil es in dem Alter doch sicher kein Wunschkind war. Oder die ältere Dame, die ihrer Begleitung sehr empört und viel zu laut zumaulte, dass doch jeder normale Mensch sehen müsse, dass der Buggy viel zu groß für das Kind sei, sodass sie davon ausgehen musste, dass ich es höre. Natürlich ohne zu wissen, dass sich mein Sohn zu dem Zeitpunkt in Tragetuch und zu mir gerichteten Kinderwagen die Seele aus dem Leib brüllte und nur in diesem viel zu großen Buggy zur Ruhe kam. Und natürlich ist mir auch bewusst, dass es zahllose schwangere und entbindende Menschen gibt, denen es sehr wohl genau so geht, wie Teresa.
Julia Friese ist es gelungen, all diese klitzekleinen Ungerechtigkeiten und Gemeinheiten einzufangen, die diesen Menschen Tag für Tag passieren, die nerven, wütend und traurig machen und viel zu oft viel zu tief verletzen. Auch wenn ich mit der Sprache des Textes und den kurzen Sätzen zunächst leichte Schwierigkeiten hatte, kann ich nur meinen Hut vor der Autorin ziehen, der es gelungen ist, mich beim Lesen durch eine Achterbahn der Gefühle zu schicken und mir auch jetzt noch immer wieder Szenen in den Kopf springen. Dieses Buch hallt nach.
Ich schäme mich ausreichend für mich selbst. Nach jedem Gespräch. Nach jeder Begegnung mit neuen Menschen begegne ich mir selber. Immer wieder. Auf die unangenehmste Art und Weise. Werde ich mir bewusst über das, was ich gesagt habe. Kann ich meine eigenen Worte nicht ertragen. […] Ich empfinde Mitleid mit Menschen, die mich mögen. Weil sie sich doch irren. In mir.
S. 60
Danke an @wallsteinverlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.
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