Ich habe mich im November zum ersten Mal mit Texten der Literaturnobelpreisträgerin von 2022 Annie Erneaux beschäftigt und verstehe die Entscheidung des Nobelpreiskomitees nun absolut.

Im Jahr 1986 stirbt Erneaux‘ Mutter. Nur Tage nach dem Tod beginnt die Autorin Eine Frau zu schreiben, einen Text über das Leben ihrer Mutter, die Person, die sie war, über ihr Altern, ihr Sterben und die Zeit der Trauer. Auf gerade einmal 89 Seiten verfasst sie dabei nicht nur einen emotionalen Nachruf auf ihre Mutter sondern auch eine Hommage an Simone de Beauvoir, auf deren Ein sanfter Tod sich Erneaux offensichtlich in ihrem Text stilistisch und inhaltlich intertextuell bezieht.

Sie starb acht Tage vor Simone de Beauvoir. Sie war allen gegenüber großzügig, sie gab lieber, als dass sie nahm. Ist Schreiben nicht auch eine Form des Gebens?

S. 88.

In Das Ereignis erzählt Erneaux schonungslos von einer Abtreibung, die sie 1963 illegalerweise vornehmen ließ. Sie berichtet von der Zeit davor, von ihren Gefühlen ungewollt schwanger zu sein, von der verzweifelten Suche nach einer Möglichkeit, diese Schwangerschaft abzubrechen „[u]nd von den Demütigungen, Verletzungen und Stigmatisierungen, die sie dabei erleiden musste – und die bis heute nachhallen“ (Klappentext).

Etwas erlebt zu haben, egal, was es ist, verleiht einem das unveräußerliche Recht, darüber zu schreiben. Es gibt keine minderwertige Wahrheit. Wenn ich diese Erfahrung nicht im Detail erzähle, trage ich dazu bei, die Lebenswirklichkeit von Frauen zu verschleiern, und mache mich zur Komplizin der männlichen Herrschaft über die Welt.

S. 48.

Erneaux trifft mit jedem Wort den Nagel auf den Kopf. Außergewöhnlich präzise seziert sie ihr eigenes Leben und ihr tiefstes Inneres. Es ist zutiefst beeindruckend, wie gut sie ihr Handwerk beherrscht und ich werde mich unter allen Umständen auch ihren anderen Texten widmen.

Beide Texte wurden auf großartige Weise von Sonja Finck aus dem Französischen übersetzt und ich habe sie mir selbst gekauft.

Habt ihr bereits Bücher von Erneaux gelesen? Welches ist euer liebstes und warum? Wie steht ihr zu der Autorin und wie beurteilt ihr die Entscheidung des Nobelpreiskomitees?