Und so suhlte ich mich einen Nachmittag lang in der Vergangenheit meines noch jungen, doch verhinderten Lebens. Ich verstand nur zu gut, weshalb mich niemand mochte. Ich war ein kleiner Fuckup, der sich manchmal zu toll vorkam und kurze Zeit später heulend in der Ecke saß.

S. 167.

Juli Ehre wird in einem Elternhaus groß, in dem häusliche Gewalt an der Tagesordnung ist. Der aggressive Vater tyrannisiert Kinder und Ehefrau, schlägt und prügelt alle ohne Rücksicht auf Verluste. Nun stammt Familie Ehre aber nicht aus einem bildungsfernen Milieu und sie leben auch nicht in prekären finanziellen Verhältnissen, sie entsprechen also nicht dem Klischee, an das wohl (blöderweise) die meisten von uns sofort denken, wenn sie an häusliche Gewalt denken. Julis Vater ist gut bezahlter Anwalt, die Familie ist hoch angesehen und im ganzen Ort bekannt. In einer solchen Familie passiert sowas einfach nicht! Die Mutter verharmlost und relativiert die Taten ihres Gatten, erkennt sich selbst zu keinem Zeitpunkt in der Opferrolle. Juli sieht die Bilder ihrer Kindheit im Kopf, aber sie traut ihren eigenen Erinnerungen nicht. Die Brüder, die ihre Erfahrungen teilen, gehen ganz unterschiedlich mit der eigenen Kindheit um. Jahrzehntelang versucht Juli sich von ihren Traumata zu befreien und endlich die Deutungshoheit über ihr eigenes Leben zu gewinnen…

Daheim hatte sie überhaupt nichts gelernt außer Schreien, Schlagen, Manipulieren. Damit konnte man keine Arrabbiata kochen. Es half auch nicht beim Freundefinden. Ihr fehlte das Handwerkszeug zum Leben, verdammte Scheiße!

S. 299.

Claudia Schumacher hat mit Liebe ist gewaltig einen eindrucksvollen Roman geschrieben, der fesselt und bewegt. Die Dynamiken innerhalb der Familie sind unglaublich authentisch erzählt, Julis Gedanken- und Gefühlswelt ist so greif- und nachfühlbar. Über eine Kindheit voller Gewalt zu lesen, aus der auszubrechen absolut unmöglich erscheint und die ständige Ohnmacht gegen den als allmächtig empfundenen Vater mitzufühlen hat mir viel abverlangt. Dabei ist Schuhmachers Sprache aber so alltäglich und echt, dass ich oft das Gefühl hatte, mich unmittelbar mit Juli zu unterhalten. Beeindruckend und lesenswert!