Dadurch, dass Literatur so patriarchal geprägt ist und war, sind wir alle daran gewöhnt, die Welt durch die Brille (weißer) Männer zu sehen. So lernen wir, wie Männer denken, wie sie fühlen, wie sie erwachsen werden, was sie bedrückt, worüber sie sich freuen, was ihnen etwas bedeutet. Männliches Erleben ist eben menschliches Erleben – und weibliches Erleben ist eine Nische.

S. 70.

Hand auf’s Herz: wie viele Texte von Frauen habt ihr in der Schule gelesen? Bei mir war es genau einer. Christa Wolfs Kassandra. Im Studium kann ich mich auf Anhieb an keinen erinnern und ich habe immerhin einen Master in vergleichender Literaturwissenschaft.
Immerhin ein Schwarzer Autor

war im Studium dabei, keine offen nicht-cis-hetero Autor*innen, keine Texte von Menschen mit Behinderung. Das liegt daran, dass der westliche Literaturkanon erschreckend männlich, weiß und heteronormativ ist und die Schreibenden fast ausschließlich dem priviligierten Bildungsbürgertum entstammen.

Wenn man fragt, was einen Klassiker eigentlich ausmacht, ist eine häufige Antwort, dass er unabhängig vom zeitlichen Kontext seiner Entstehung funktioniert, eine Art „Allgemeingültigkeit“ besitzt, die die Zeit überdauert und/oder uns etwas über eben jenen zeitlichen Kontext seiner Entstehung erzählt. Wenn die Perspektive allerdings derart eingeschränkt ist, wie im literarischen Kanon, können die darin enthaltenen Texte ja auch nur eine eingeschränkte Perspektive erzählen.

@teresareichl „Teresa Cancel Culture Reichl“ (ihre eigenen Worte) stellt zudem folgende These auf:

Die Werke, in denen Frauen nicht gut wegkommen, sind die größten Klassiker und das ist Absicht.

S. 190.

Dass es Alternativen gibt und es eben nicht stimmt, dass immer nur Männer geschrieben haben und es keine geeigneten Texte von Schwarzen, Behinderten, nicht-hetero Autor*innen gibt, belegt sie in ihrem Buch Muss ich das gelesen haben? und erläutert dabei auch gleich, wie diese Stimmen aus dem klassischen Literaturkanon verdrängt wurden.

Denn:

Was es braucht, ist das genaue Gegenteil von ‚Mei, das war halt damals so‘. Wir brauchen ein ‚und deshalb ist xy heute immer noch so‘. Ein ‚und das zeigt, wieso xy in Deutschland so ein Problem ist‘. Literatur kann das. Klassiker können das.

S. 195.

Dabei richtet sie sich vor allem an Jugendliche und Menschen, die diese unterrichten. Denn wie kann es sein, dass Lesen nachweislich unglaublich positive Effekte auf unser Leben hat und „die Jugend von heute“ trotzdem kaum noch Bock auf Bücher hat? Die jugendliche Zielgruppe erkennt man auch an der Sprache Reichls. Diese ist betont jung und „frech“ (habe ich das gerade geschrieben? Ich fühle mich, wie meine eigene Oma…). Ehrlich gesagt hat mich das gleichzeitig genervt und so richtig in Fahrt gebracht. Ich kann das nicht erklären, es war einfach ätzend und geil gleichzeitig. Ist aber voll okay, weil ich ja nun mal nicht die Zielgruppe bin und wenn die das super findet, dieses Buch liest und danach Lehrer*innen auf die Nerven geht, um diversere Lektüren einzufordern: You go, girl!


Die vermittelten literaturwissenschaftlichen Grundlagen waren für mich jetzt auch nicht neu, aber wenn das so wäre, wäre in meinem Studium neben der Literaturauswahl auch noch einiges mehr schief gelaufen…


Maximal abgefeiert habe ich das Kapitel zu Thomas Mann (Teresa Reichl hat mir hier aus der Seele gesprochen) und die Fun Facts ganz am Ende des Buches. N Träumchen.
Dank der Literaturliste im Anhang habe ich nun auch wieder neuen Stoff, der der neverending-Leseliste hinzugefügt werden muss und ich bin sehr heiß auf einige der Titel.


Alles in allem habe ich Muss ich das gelesen haben? echt gerne und flott weggelesen und ich hab mich ganz schön geärgert (über Menners und das Patriarchat) und mich kringelig gelacht (über Reichls-Thomas-Mann-hate). Gutes Buch. Lehrer*innen (vor allem an weiterführenden Schulen), Pädagog*innen und Menschen, die noch zur Schule gehen oder mutig genug sind, irgendeine Geisteswissenschaft zu studieren, sollten das lesen. Echt.


Und zuletzt möchte ich mich den Worten von Teresa Reichl an die Jugend anschließen:

Ihr seid so geil. Ihr habt keine Angst vor nichts, you take no shit, ihr macht und ihr fordert, und zwar unermüdlich immer und immer wieder. Ihr wisst, was euch zusteht und ihr verlangt es – völlig zu Recht. Also will ich, wenn ich euch um eine Sache bitten darf, dass ihr nervt!

S. 200.

Vielen Dank an den @haymonverlag für das Rezensionsexemplar!