Die junge Inuit Uqsuralik wird von ihrer Familie getrennt, als sie nachts das gemeinsame Zelt in der arktischen Tundra verlässt und das Eis bricht. Allein macht sie sich auf den Weg, um im Eis zu überleben. Nachdem sie sich eine Weile zusammen mit einer Herde Hunde durchgeschlagen hat, trifft sie auf eine Gruppe Nomaden und schließt sich ihnen an. Hier kann sie sich durch ihre Jagdfähigkeiten einbringen, aber damit macht sie sich in der Gemeinschaft auch Feinde…

Bérengère Cournut hat eine unfassbar poetische Erzählung geschaffen, die vor kunstvoller Naturbeschreibungen strotzt. An den Enden der kurzen Kapitel lesen wir wiederholt Lieder der verschiedenen Protagonist*innen, die sie für oder über etwas oder jemanden singen und die über die Ich-Perspektive Uqsuraliks hinausreichen. Die französische Autorin hat sich dafür über viele Jahre mit der Kultur verschiedener Inuitvölker beschäftigt und die gute Recherchearbeit lässt sich eindeutig erkennen. Ein Glossar erklärt die verwendeten indigenen Begriffe und ich habe eindeutig wahnsinnig viel über die Völker der arktischen Tundra gelernt, über die ich zuvor zugegebenermaßen quasi gar nichts wusste. Trotz der herausragenden Recherchearbeit liegt auch genau hier ein Kritikpunkt, den die Autorin selbst bereits in ihrem Text aufgreift:

Ohne je einen Fuß auf Nuna, unser Land, gesetzt zu haben, schreiben sie Tausende von Seiten über uns voll, füllen Lederhüllen mit unseren Geschichten, für die andere sie rühmen. Diese Menschen besiedeln und kolonisieren eine Vorstellungswelt, die ihnen nicht gehört.

S. 220.

Natürlich bin ich eine große Freundin von Own-Voice-Literatur und finde, dass die Geschichte der Inuit am besten von ihnen selbst erzählt werden sollte. Mit dem Zitat zeigt die Autorin meiner Meinung nach aber auch auf reflektierte Weise, dass sie keinen Anspruch auf Authentizität ergeben möchte. Durch das Glossar, die Verarbeitung von tatsächlichen Sagen und Legenden der Inuitvölker und angehängtem Fotomaterial sorgt das Buch aber für Sichtbarkeit. Es bleibt zu hoffen, dass wir öfter die Möglichkeit bekommen, Own-Voice-Texte dieser Völker zu lesen.

Das Lied der Arktis von Bérengère Cournut in der wunderbaren Übersetzung von Stefanie Jacobs ist ein fast lyrischer, naturnaher Roman, der einen in eine völlig fremde Welt und eine unbekannte Kultur versetzt. Die mitunter fast surreal wirkenden Elemente erscheinen zwischen den rauen und kalten Naturbeschreibungen fast deplaziert, ermöglichen aber gleichzeitig Einblicke in Glauben, Kultur und Leben der arktischen Völker. Während ich beim Lesen stellenweise Schwierigkeiten hatte, im Text zu bleiben und mit den Charakteren mitzufühlen, habe ich jetzt im Nachhinein das Gefühl, dass das Buch genau das geschafft hat, was ich an Literatur am meisten liebe: es hat mir eine Welt gezeigt, die nicht meine ist, es hat mich in eine Lebensrealität versetzt, die von meiner eigenen kaum weiter entfernt sein könnte und es hat mich Dinge über andere Kulturen und Menschen gelehrt, die ich zuvor nicht wusste. Dafür schätze ich es.
Kennt ihr Own-Voice-Bücher von Inuit, die ins Deutsche übersetzt wurden? Kennt ihr andere Texte, die im äußersten Norden spielen?