Nach „Bad Feminist“ durfte ich nun, dank dem Bloggerportal und dem btb-Verlag auch „Hunger“ von Roxane Gay in der Übersetzung von Anne Spielmann lesen.

Nach ihrer Essaysammlung widmet sich Gay in diesem Buch auf äußerst persönliche Weise ihrem eigenen Körper und berichtet aus der Lebensrealität einer stark übergewichtigen Person in unserer Gesellschaft.

Wer „Bad Feminist“ gelesen hat, dem werden einige Passagen aus „Hunger“ bekannt vorkommen und generell muss ich sagen, dass ich beim Lesen oft den Eindruck hatte, dass die Autorin sehr unstrukturiert schrieb.
Das ist nicht automatisch schlecht, wirkt das Ganze dadurch doch sehr unmittelbar und authentisch, allerdings sorgte es dafür, dass ich hin und wieder das Gefühl hatte, das Gelesene wiederhole sich.

Gay legt den Finger in die Wunde. Ich musste mir oft an die eigene Nase packen, mir eingestehen, dass ich nicht so vorurteilsfrei bin, wie ich gern wäre und gern von mir behaupte und dass mein Körperbild unmittelbar und stark von einer gesellschaftlichen Norm geprägt ist, die krankhaft und exzessiv auf den dünnen Frauenkörper fixiert ist.

Die Autorin schafft es erneut, sehr ernste Themen mit einer Prise Humor zu würzen, sodass so großartige Absätze entstehen wie:

Diese Idee ist sehr beliebt: dass die Dicken unter uns im Inneren eine dünne Frau mit sich herumtragen. Jedes Mal […] denke ich: Ich habe diese dünne Frau aufgegessen, sie hat sehr gut geschmeckt, aber es hat etwas gefehlt. Und dann denke ich, wie völlig bescheuert es ist, diese Idee zu verbreiten, dass unser wahres Selbst eine dünne Frau ist, die sich in unserem dicken Körper versteckt wie eine Betrügerin.

S. 147.

Mitunter hat mich beim Lesen Gays doch sehr einseitige Sichtweise gestört. Viele der Reaktionen in von ihr geschilderten Situationen bezieht sie allein auf ihr Dicksein. So beschreibt sie beispielsweise eine Begegnung auf einer Lesung, die sie halten sollte, in der sie bei Ankunft von einem Mitarbeiter gefragt wird, ob dieser ihr helfen könne. Als sie ihm mitteilte, dass sie die Jenige ist, die die Lesung hält, hätte er verlegen reagiert. Sie schließt daraus, dass er sich wegen ihres Körpers nicht hätte vorstellen können, dass sie der Gast des Abends sei.
Da denke ich mir, nun gut, vielleicht hat er auch einfach eine ihm unbekannte Person gesehen, ihr seine Hilfe angeboten, wie es als Mitarbeiter von ihm erwartet wird und ihm war es dann schlicht peinlich, dass er keine Ahnung hatte, wer sie ist.
Könnte mir auch passieren, wäre mir halt auch peinlich.

Und dann dachte ich: okay, klar, wenn man einen Körper hat, der so weit von den akzeptierten Normen abweicht, ist es wahrscheinlich eine völlig normale Reaktion, alles, aber auch wirklich alles auf diesen Körper zu beziehen und auch im Hinblick darauf, konnte mir Gay ihre Perspektive eindrucksvoll verdeutlichen.

In dem Buch geht es nicht um „Body-Positivity“ um jeden Preis. Gay schildert sehr offen und ehrlich, welche Probleme ihr ihr Gewicht abseits der Gesellschaft verursacht, mit welchen Schmerzen sie zu kämpfen hat und welche Nebenwirkungen ihr Übergewicht haben, aber auch, welche „Dicken-Klischees“ ihr Körper nicht bestätigt. Auch hier ist ihr Text sehr subjektiv, es ist keine Abhandlung über das Dicksein, es ist keine Reportage über Übergewicht und es ist kein Bericht über das Körperbild im Allgemeinen, es ist eine subjektive Schilderung aus der Sicht Roxane Gays, der sich auf SIE und IHREN Körper bezieht.

Ich war nie übergewichtig. Nicht einmal ansatzweise. Trotzdem hatte auch ich „Probleme“ mit meinem Gewicht. Weil das gewollt ist. Ich bin eine Frau. Meine Gedanken sollen sich bitte ständig um meinen Körper, mein Gewicht drehen, damit ich dauernd damit beschäftigt bin, ihn für den männlichen Blick zu optimieren.

Wenn ich die Straße entlanggehe, beugen sich Männer aus den Fenstern ihrer Autos und rufen mir vulgäre Dinge hinterher, über meinen Körper, den sie auf bestimmte Weise sehen, sie geben ihrem Ärger darüber Ausdruck, dass ich ihrem Blick und ihren Vorlieben und Wünschen nicht gerecht werde. Ich versuche, diese Männer nicht ernst zu nehmen, denn was sie wirklich sagen, ist: „Du bist nicht attraktiv für mich. Ich will dich nicht ficken, und das verwirrt mich in meinem Verständnis von Männlichkeit, es widerspricht meinem Anspruch und dem Platz, den ich in der Welt einnehme.“
Es ist nicht mein Job, ihnen mit meinem Körper zu gefallen.

S. 197.

Wenn ich die Straße entlanggehe, bremsen Autos ab, in denen unterschiedliche Anzahlen von Männern sitzen. Sie fahren manchmal langsam neben mir her, sie pfeifen, machen anzügliche Witze, fragen, wo ich denn so alleine hingehe.
All das wirkt unfassbar bedrohlich, wenn man alleine ist.
Einmal war ich auf einem Festival und trug ein lila-schwarz quergestreiftes T-Shirt. Ich war damals genau so groß wie heute und wog etwas mehr (was für mich damals eine pure Katastrophe war). Mir kam eine Gruppe entgegen, aus der einer rief: „Querstreifen tragen aber ganz schön auf“ oder so ähnlich. Das ist zehn Jahre her und ich weiß es immer noch. Nicht, weil ich heute noch darunter leide, sondern weil es mich damals so schockiert hat, dass jemand Fremdes völlig ungefragt meinen Körper kommentiert (seit meiner Schwangerschaft schockt mich heute gar nichts mehr…) und dann auch noch auf eine so negative Art und Weise. Das war mir zuvor nie passiert und ich bekam in diesem Moment eine Ahnung (undzwar wirklich nur eine minimale Ahnung), wie es für Menschen sein muss, denen das tagtäglich passiert.
Ich möchte meine Erfahrungen nicht gegen die der Autorin oder die von irgendjemandem stellen. Ich möchte keinen Battle starten, ob es schlimmer ist, als dicke Frau angefeindet oder als dünne Frau bedroht zu werden.
Ich möchte sagen:


Haltet verdammt nochmal die Fresse und hört auf ungefragt unsere Körper zu kommentieren!

Gay schreibt über Vergewaltigung, über emotionalen Missbrauch, über ihren Körper und darüber, wie diese Punkte sich gegenseitig bedingten.
Ich bin sehr dankbar für die ehrlichen Schilderungen ihrer Lebensrealität, die Berichte über die Probleme, mit denen sie im Alltag umgehen muss, die nicht meine Probleme sind. Da gibt es Punkte, über die ich zuvor nie nachgedacht habe, weil es eben nicht mein Alltag ist und ich anscheinend, wie alle Menschen dazu neige, Dinge nicht wahrzunehmen, die mich nicht unmittelbar betreffen.


Mit dieser geballten Ehrlichkeit hat das Buch mich meine eigenen Denkmuster und Vorurteile hinterfragen und anzweifeln lassen und das ist es, was ein gutes Sachbuch für mich ausmacht.